Wenn Ausbildung nur auf dem Papier stattfindet

Viele Azubis werden nicht ausgebildet, sondern ausgenutzt. Warum gute Ausbildung Haltung braucht – und keine alten Ausreden. Jetzt lesen.
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Ich bin seit vielen Jahren Prüferin für kaufmännische Ausbildungsberufe. Und jedes Mal hoffe ich, dass die Azubis, die vor mir sitzen, eine faire und fundierte Ausbildung bekommen haben. Dass sie vorbereitet sind – nicht nur auf die Prüfung, sondern auf ihren Beruf.

Aber zu oft sieht die Realität anders aus:

Was läuft hier eigentlich schief?

Du sitzt im Prüfungsraum.
Vor Dir: ein junger Mensch. Nervös, schweigend, überfordert.
Du stellst einfache Fragen. Keine fiesen. Keine „Fallen“.
Und trotzdem: Leere Blicke. Verlegenheit. Schulterzucken.
Immer wieder.

 

Das ist kein Einzelfall.
Das ist Alltag.

In den letzten Wochen habe ich – wie so oft – Azubis geprüft.
Und viel zu häufig erlebt:
Sie wurden nicht begleitet. Nicht aufgebaut. Nicht ermutigt.
Sie wurden einfach nur „beschäftigt“.


Oder besser gesagt: ausgenutzt.

Sie mussten Lücken stopfen, die kein anderer füllen wollte.
Sie wurden durch Abteilungen geschoben – ohne Erklärung, ohne Ziel.
„Learning by Doing“, sagen die Betriebe.


In Wahrheit aber: „Überleben durch Funktionieren.“

Und wenn der Azubi in der Prüfung versagt?


Tja, dann liegt’s wohl am Azubi:

„Der ist halt nicht belastbar.“
„Die neue Generation ist einfach nicht mehr so engagiert.“
„Wir mussten damals auch da durch – da wird man schon nicht sterben.“

🛑 Stopp.
Das ist nicht fair. Und schon gar nicht richtig.

Die Wahrheit ist: Das Problem sitzt woanders.

Diese jungen Menschen kommen direkt aus einem Schulsystem, das ihnen jahrelang beigebracht hat:
   🔹 Befolge Regeln
   🔹 Warte auf Anweisungen
   🔹 Halte Dich zurück
   🔹 Hab keinen eigenen Kopf

 

Und dann – von einem Tag auf den anderen – sollen sie plötzlich mitdenken, mitreden, mitgestalten.
Sich einbringen, Verantwortung übernehmen. Ohne Vorbereitung. Ohne Anleitung. Ohne Rückhalt.


Wie denn bitte?

Viele Betriebe erwarten, dass Azubis wie kleine Maschinen funktionieren: 100 % einsatzfähig, verlässlich, leistungsstark – und das am besten ab Woche eins. Doch sie haben keine Zeit. Kein Konzept. Kein echtes Interesse. Nur Bedarf.

 

Das ist kein Start ins Berufsleben – das ist ein Crashkurs in Überforderung.

Der schöne Schein – und das hässliche Dahinter

Und das Verrückteste? Viele Betriebe schmücken sich nach außen mit Begriffen wie:
   🌟 „Excellence Employer“
   🌟 „Innovativer Ausbildungsbetrieb“
   🌟 „Arbeiten auf Augenhöhe“
   🌟 „Mitarbeiter im Fokus“

 

Schöne Worte.
Hochglanz auf der Website.
Aber nichts davon spiegelt sich im Alltag ihrer Azubis wider.

 

Was Du als Azubi bekommst, ist eine Rolle. Was Du als Azubi brauchst, ist eine Beziehung. 

❤️ Gute Ausbildung ist Haltung – kein Zufall

Ich schreibe diesen Artikel nicht, um mit dem Finger zu zeigen. Ich schreibe ihn, weil ich weiß: Es geht anders.


Und weil ich jeden Tag Ausbilderinnen und Ausbilder treffe, die mehr wollen.


Die sich fragen:
   🔸 Was brauchen meine Azubis WIRKLICH?
   🔸 Wo stehen sie – fachlich, persönlich, emotional?
   🔸 Und wie kann ich sie so begleiten, dass sie mit Stolz durch ihre Prüfung gehen?

 

Das ist möglich. Aber nur, wenn Du bereit bist, hinzuschauen.

Und hinzuhören. Auch auf das, was vielleicht unbequem ist.

Fazit: Ausbildung beginnt nicht mit einem Vertrag.

Sondern mit einem ehrlichen Blick auf Dich selbst.

Bist Du bereit, Deine Ausbildung zu hinterfragen?
Nicht aus Schuld, sondern aus Verantwortung?

Dann bleib dran.


Denn im nächsten Teil dieser Serie zeige ich Dir, wie gute Ausbildung auch aussehen kann – mit all den Momenten, die uns Prüfern das Herz aufgehen lassen. 💚

 

📎 Teil 2 erscheint in Kürze.

Mit über 25 Jahren Erfahrung in Ausbildung, Praxis und Führung vereint Astrid Leitl tiefes Fachwissen mit echter Leidenschaft. Ihre Mission: Ausbildungs- und Fortbildungsprozesse so gestalten, dass sie nicht nur funktionieren – sondern begeistern und nachhaltig wirken.

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Astrid Leitl

Gepr. Berufspädagogin (IHK) / Master Professional of Vocational Training (CCI)